Dōjō

Ein Essay von Thomas R. Buntrock

Gleich vorweg: Dieser Artikel ist für Menschen gedacht, die Fragen haben. Die sich fragen: Warum ist bei Ampeln oben Rot? Die sich fragen: Warum kniet man am Ende mancher Kata ab, warum heißt es „dō“ und nicht „michi“? Es ist für alle Neugierigen. Der Artikel verbessert weder kata, Technik noch kiseme. Das geht nur unter der kundigen Führung eines guten Sensei durch beständiges Üben, Schweiß und Mühe.
Zunächst klären wir die Frage, was ein Dōjō nicht ist: Therapiezentrum, Versteck, Laberclub, Peepshow, Eheberatung, Dating Club, Ort der Gewalt, Laufsteg, Bühne, obskurer Tempel, Geheimgesellschaft.


Dōjō bedeutet mehr oder weniger Trainingsort. Und das muss beileibe nicht an einen überdachten Ort gebunden sein. Im feudalen Japan trainierte man auf dem Feld, denn die damaligen Sensei waren Überlebende der Schlachten und die fanden sicherlich nicht in einer Halle statt. Im Laufe der Jahre unterlag die Schwertkampfkunst allerdings einem Wandel, der zugleich mit dem „dō“ einherging. Wenngleich in Japan das Dōjō in der Feudalzeit eine gesamtheitliche Einrichtung war, in der viele Kampfkünste gelehrt wurden und die Schüler quasi immatrikuliert waren, ist die westlich orientierte Dōjō-Kultur ein wenig anders gestrickt. Große Häuser wie z.B. Himeji Castle beherbergten Hunderte von Samurai in der eigenen Burg; diese hatten sehr wohl überdachte Trainingsräume.


Das heutige Training der meisten Kampfkunst-Schulen findet in öffentlichen Turnhallen statt. Nur wenige Dōjō haben eine eigene
Lokalität, wie zum Beispiel das Tamonten Dōjō in Osnabrück. Ganz wenige, herausragende Dōjō sind im eigenen Haus etabliert wie zum Beispiel das Hombu Dōjō von Furuichi Sensei in Kanagawa. Es ist sehr schade, dass viele Trainingseinheiten, ja eigentlich die meisten, in überdachten Räumen stattfinden. Es gibt immer vier Ecken, eine Bodenstruktur, Wände, an denen man sich orientieren kann und so weiter. Auf dem Jahreshauptseminar des DIAIB 2023 veranlassten die Sensei, dass ein „japanisches“ Embukai vorgeführt wird. Okay, das war in einer Halle, aber japanisch bedeutet: Um 45 ° nach rechts verdreht. 3 Tage Training immer mit derselben Raum-Harmonik und plötzlich ist alles beim Teufel. Ich habe so manchen gesehen, der „aus dem Takt“ kam, weil die Räumlichkeit verschoben war und die Orientierungspunkte fehlten. In vielen mir bekannten Dōjō ist es absolut üblich, am Ende einer jeden Trainingsstunde ein Embukai vorzuführen. Egal, wer oder wie lange man schon Iaidō betreibt. Das ist enorm wichtig. Tut man das nicht, steht man dann irgendwann vor dieser Aufgabe und sieht alt aus. Noch eine Spur schwieriger ist es, im Freien zu trainieren. Da passt dann gar nichts mehr. Keine Ecken, keine Winkel, keine Wände und zu allem Überfluss ist der Boden eventuell noch uneben!


Kommen wir zu den Formalien. Ein privates Dōjō (Tamonten, Aikido Zen Bremen) hat einen Eingang, der wird shimoza genannt, der untere Sitz. Dem gegenüber befindet sich die Stirnseite, genannt kamiza, der hohe Sitz. Die vom Eingang aus gesehen rechte Seite nennt man joseki, die linke Seite wird shimoseki genannt. Das ist die Basis-Struktur. Seltener gibt es auf der kamiza-Seite einen erhöhten Boden oder eine Art Podest, genannt „shinden“. Er ist symbolisch vorgesehen für den Begründer einer Kampfkunst (soke) oder falls kaiserlicher Besuch anstünde. Wie wahrscheinlich das in Deutschland ist, mag jeder selbst überlegen. Ein anderer Name für diesen Ort ist agari zashiki (erhabener Platz). Offenbar bestand das kulturelle Bestreben, hochgestellte Personen, Anführer und Clan-Oberhäupter vom Rest der Gemeinschaft zu trennen. Im Iaidō hier in Deutschland wäre dieser Platz zum Beispiel reserviert für Ishido Sensei, Furuichi Sensei, Oshida Sensei oder Morita Sensei. Sofern, und das ist der wichtige Part: Sofern sie es denn akzeptieren!


Es gibt in Japan immer wiederkehrende Begriffe. Zum Beispiel omote und ura. Die können viele Bedeutungen haben, tatsächlich kommen sie in den Schwertmontierungen (koshirae) wieder vor. Hier bedeutet omote: Das Oberflächliche, das Gesehene, Eindeutige (Außenseite des katana, wenn es in der saya steckt). Ura bedeutet: Das Verborgene, Geheime. Und manchmal ist das der wichtigere Part. Kamiza (kamidana), shimoza, joseki und shimoseki ist omote. Kommen wir (leider nur kurz) zum ura.


Betreten wir ein Dōjō, haben wir unsere vier Richtungen. Meistens hängt an der nördlichen Stirnseite ein Schrein, genannt kamidana. In Ermangelung dessen befindet sich oft in einer Nische prominent das Abbild des Gründers eines Stiles, umgeben von Blumen, oft sogar beleuchtet und mit einer Klangschale und/oder einer Schale für Räucherstäbchen versehen. Das ist der wichtigste Teil eines Dōjō. Es mag oberflächlich betrachtet eine edlere Sporthalle sein, aber das ist falsch. Allein die Ästhetik des Aufbaues ist inspirierend und das ist absichtlich so getan. Denn mit der Frontseite haben wir den kurzen Eindruck eines Tempels buddhistischen Ursprunges. Dōjō leitet sich her von einem Ort (jō), in dem buddhistischen Übungen ausgeführt wurden. Daher heißen Wettkampforte shiai-jō, Vorführorte embu-jō, Orte im Garten z.B. keiko-jō usw. Training im Freien nennt man auch yagai-geiko oder no-geiko (Training auf dem Feld). Sumo ist hier eine Ausnahme. Die Übenden bezeichnen sich nicht als Sumoka, sondern als Sumotori, der Übungsort wird „heya oder beya genannt: Stall, keiko-ba, das gleicht einer tatsächlichen Arena. Die Ausnahme der sumotori liegt zugrunde, weil es eben nicht im Curriculum des Buddhismus verwurzelt ist, sondern eher im Shintoismus. Dōjō war nie Teil der Ausdrucksweise des Buddhismus. Dō, im buddhistischen Sinne, bedeutet: Der Weg. Ergo ist ein Dōjō ein Ort, um den Weg zu üben.


Traditionell (wie in „reihō“ beschrieben) sitzen die „älteren“ Schüler oder Sensei auf der joseki Seite, die jüngeren oder neueren Schüler sitzen (und üben) auf der shimoseki Seite. In manchen kōryu Schulen ist das aber genau andersherum. Aber warum? Vermutlich liegt das an den ländlichen Traditionen im alten Japan. In den bäuerlichen Gemeinden saß der Älteste immer am Kopf der Tafel, die älteren nach ihm saßen links der Tafel. Daher kommt das Wort: Sayonara. Wörtlich übersetzt: „Der links Sitzende wurde vernommen (gehört, nicht verhört!)“. Bedeutet: Vater und (ältester) Sohn besprachen die Abfolge der anstehenden Handlungen, danach konnten die Aktionen beginnen. Hierzulande wäre das ein Meeting oder Briefing. Achtet bitte einmal darauf, wenn ihr zu einem Meeting oder einer Besprechung mit der Geschäftsleitung geht. Der Vorsitzende oder Chairman sitzt nie nahe der Tür! Und er sitzt meistens so, dass er das Tageslicht im Rücken hat. Das geschieht auch, wenn man zu Gericht sitzt. Ein psychologischer Trick ist, dass der Staatsanwalt das Licht im Rücken hat…


Ein weiterer omote-Punkt ist die Ausrichtung. Die reishiki (Etikette) ist diesbezüglich eindeutig. Die reishiki hatte formell drei Bedeutungen. Es sorgt bereits die Aufstellung für maximalen Schutz des Lehrers. Traditionell sitzt der „Vorstand/Dōjōleiter/Sensei“ am weitesten weg von der Tür, vorzugsweise auf der joseki Seite. Die Schüler sitzen in absteigender Graduierung auf der shimoseki Seite. Im Falle eines Überfalles ist Sensei so geschützt. Der zweite Aspekt ist: Spionage. Wenn Sensei Techniken zeigt, die nicht jeder Zuschauer sofort sehen soll, ist immer genug Schülerschar vor ihm, um ein Ausspähen weitestgehend zu verhindern. Der dritte Aspekt ist die Reflexion buddhistischer Rituale, die aufzuführen hier zu weit ginge. Soweit zu omote. Doch was macht ura?


Der ura- Teil bei der Dōjō – Struktur spiegelt sich auch bei der Positionierung der Waffen. In Iaidō- und Aikidō - Dōjō hängen die Übungsgeräte wie Iaitō, bokuto, naginata, bo und jo in formschönen Haltern an der Wand. Oberflächlich (omote) ja, aber, der geneigte Leser wird es bereits vermuten: das ist nur die halbe Wahrheit. Erinnern wir uns an die Aufreihung (seiretsu) und den Sinn. Wird ein Dōjō überfallen und die Waffen hängen bspw. links und rechts des Einganges, wird der Schutztruppe der Zugriff zu den Verteidigungsgeräten verwehrt und der Sensei ist ausgeliefert. Aus diesem Grunde ist es klüger, die Waffen links und rechts der kamidana zu positionieren.
Vielen Menschen, inklusive langjährig praktizierender Iaidōka ist nicht bewusst, wieviel Taoismus im Budō steckt. Im Taoismus gibt es fünf
Elemente, die das Entstehen und Vergehen von Energien erklärt. Es würde hier zu weit führen, das alles erklären zu wollen, also nur ein kurzer Abriss: Alle materiellen und energetischen Phänomene des Universums befinden sich in stetigem Wandel: körperliche, geistige und emotionale Zustände verändern sich ständig. All diese Zusammenhänge stehen in ständiger Wechselwirkung und wir erkennen nicht immer die Dinge auf den ersten Blick. Nur eine Sache steht im Vordergrund: Das Universum hasst ein Ungleichgewicht. Balance ist der entscheidende Punkt. Als Antwort darauf entwickelten die alten Daoisten das Modell der Fünf Elemente. Dafür untersuchten sie Erscheinungen wie Jahreszeiten, klimatische Einflüsse, gesellschaftliche Prozesse, Lebensphasen, Körperfunktionen und Emotionen im Hinblick auf ihre energetische Qualität und die dahinter liegenden Bewegungen. Und erkannten: alle natürlichen Prozesse und Funktionen lassen sich sinnvoll einordnen in die fünf Grundelemente: Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser. Jedem dieser Elemente wird eine Farbe zugewiesen, eine Jahreszeit, ein Klima, eine Himmelsrichtung, ein Sinn, ein Organ, ein Gewebe und ein Geschmack.


Wer die Elemente versteht, versteht das Leben. Man kann vieles beeinflussen. Kochen, Wohnraum, Musik, Kleidung und… das Dōjō natürlich. Und daraus resultierend natürlich die Schüler, die Lehre, die Stimmung und den Fortschritt. Ich kenne ein Dōjō, da befindet sich links hinter der kamidana eine Rumpelkammer für tatami, Boxsäcke, Seile, ausgesonderte Wand und Deckenhalterungen etc. Kurzum: Es war ein chaotischer Raum ohne Sauberkeit und Ordnung. Und das merkte man im Dōjō! Ein weiteres Dōjō war faktisch leer. Vertäfelte Wände, unbenutzte Sportgeräte, die scheinbar nur der Dekoration dienen, wacklige Treppen. Der Raum war kalt und tot. Wunderschön, aber ohne Leben. In beiden Fällen wird die negative Energie sofort egalisiert, wenn die Schüler den Ort betreten und üben. Die Energiebilanz wandelt sich ins Positive und dadurch wird der Raum sofort energetisch aufgeladen und schön. Selbst wenn das Training vorüber ist, baut sich die Energie nur langsam wieder ab. Das ist das Wechselspiel der Energien. Doch zurück zum Dōjō. Nehmen wir an (und wer von den geneigten Lesern weiß schon, in welcher Himmelsrichtung die kamiza des eigenen Dōjō steht), die shomen/kamiza ist an der nördlichen Seite ausgerichtet. Demzufolge ist shimoza, der Eingang, im Süden. Die taoistische Kosmologie besagt, dass zum Süden das Feuer-Element gehört. Es assoziiert den Intellekt und die Etikette menschlichen Zusammenlebens. Diesen Intellekt müssen wir am Eingang ablegen. Für Europäer ist das ein erstaunlicher Schritt, den wir zu gehen bereit sind. Allerdings sollten wir uns davor hüten, ein Dōjō als „nicht korrekt“ zu bezeichnen, das dem hier beschriebenen Ideal nicht entspricht! Es gibt immer gute Gründe, vom Ideal abzuweichen, seien es bauliche, ideelle oder geografische Gründe! All das darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, wo und wann wir das Wort Dōjō schon einmal gehört haben. In Dokumentationen, Filmen, Romanen oder Erzählungen. Es ist vollkommen egal. Was wir aus diesen Quellen in uns aufgenommen haben, ist eine intellektische Illusion. All das müssen wir hinter uns lassen, wenn wir das Dōjō betreten. Es ist Ballast, denn wenn wir schon wüssten, was ein Dōjō ist, mit allem drum und dran, wären wir bereits dort und nicht davor. Und das gilt für immer und ewig: reishiki… beginnt am shimoza und endet niemals! Auch nicht außerhalb des Dōjō.


Nun gibt es dramatische Unterschiede zwischen vielen Dōjō. Das traditionelle Dōjō ist wie zuvor beschrieben. Dann gibt es jedoch noch die reinen Sporthallen oder Übungsplätze. Diese sind im klassischen Sinne kein Dōjō. Verneige ich mich also, wenn ich es zum Training betrete? Aber ja! Auf den Übungsleiter-Seminaren der Stadtsportbünde sorgte das für echte Irritationen. Denn durch die Verneigung mache ich es (zumindest für die Zeit des Übens) zum Dōjō. Dasselbe gilt für öffentliche Veranstaltungen wie Lehrgänge, Seminare, Weiterbildungen, Prüfungen, Wettkämpfe. Man kann nicht erwarten, in öffentlichen Sporthallen die taoistische Struktur eines Dōjō vorzufinden, jedoch kann man es dazu machen, so gut es geht. Als Gastgeber die kamiza zu demontieren, um sie dann in einer Sporthalle aufzuhängen, wird nicht gemacht. Aber ein prominentes Bild der kamiza ist durchaus angemessen. Es reicht ebenfalls, ein Blumenbouquet zu arrangieren, ein handgemaltes kanji oder ein kake mit einem daisho; meist geht es einher mit Fahnen. Deutschland, Europa, Japan gilt als Minimal-Lösung. Auf Bundeslehrgängen reicht das ebenfalls, auf den Deutschen Iaidō-Meisterschaften wird zusätzlich jedes Bundesland mit einer Fahne repräsentiert, unabhängig von der Teilnahme. Im Gegensatz zur EIC (European Iaidō Championships), wo jede teilnehmende Nation mit einer Fahne geehrt wird.


Doch zurück zum Dōjō. Wir benutzen bokken, iaitō, shinken. Ich habe Seminare besucht, wo all das „Trainingsgerät“ geringschätzig und liederlich zwischen die Sitzreihen der Halle geworfen wurde. Das ist eine Unsitte, bei der ich Schnappatmung bekomme, weil es nicht nur eine Unsitte ist, das Schwert respektlos zu behandeln, es stört auch ungemein den Energiefluss. Im Musō shinden ryu…. bzw. Im Deutschen Iaidō Bund gibt es Regeln, nach denen das Ablegen der Schwerter (egal ob Holz oder Metall) erklärt wird. Zunächst: Die Schwertspitze (kissaki) darf niemals in Richtung kamiza zeigen. Aber auch nicht in Richtung joseki (weil da die hochgestellten Gäste, vielleicht der tenno, shogun, daimyo, Bügermeister, Botschafter etc. sitzen). Das kurigata, also die „Öse für das sageo“ an der Schwertscheide, die zumeist kunstvoll gearbeitet ist, sollte nach Möglichkeit oben liegen. Die scharfe Seite des Schwertes (egal ob Holz oder Metall), sollte vom Zentrum des Übungsraumes weg zeigen. Zuguterletzt: Wenn man bokken und Schwert zur Hand hat, liegt das bokken immer außen und das Schwert zur Wandseite. Und: Was, wenn das seiretsu nicht wie im Bild beschrieben ist, sondern shomen /kamiza sich an der Längsseite des Raumes befindet? Was, wenn dort bis zu sieben Sensei stehen (keine Seltenheit bei großen Lehrgängen)? Shomen würde sich im Rücken der Sensei befinden! Dreht die Hälfte links herum, die andere Hälfte rechts herum, der Mittlere macht einen Salto? Nein! Auch hier gibt es Regeln. Im Buddhismus ist eindeutig geklärt, mit welchem Fuß man sich der kamiza nähert. Im Buddhismus ist eindeutig geklärt, aus welcher Richtung man sich mit welchem Fuß nähert.


Diese Annäherungsregeln gründen sich natürlich auf den Kodex der Samurai. Es wird immer rechts herum gedreht, warum? Man hat Schwert bzw. saya im Blick und läuft nicht Gefahr, bei einer Linksdrehung unachtsam einem anderen Samurai sein Schwert in den Körper zu rammen. Die Folge dieser Beleidigung wäre unausweichlich ein Kampf auf Leben und Tod! Die Sensei allerdings beim reihō folgen einem pragmatischen Ansatz: Der kürzeste Weg. Doch was macht der Sensei in der Mitte? Viel Spaß beim rätseln…. Tipp: Schaut das nächste Mal kauf die Highgrades….